Mit elektronischer Haut die Welt fühlen
Ehe Roboter sicher mit Menschen zusammenarbeiten können, brauchen sie bessere Möglichkeiten, die Welt um sich herum wahrzunehmen, als sie heute verfügbare Sensorik zur Verfügung stellt. Am Laboratory for Soft Bioelectronic Interfaces (LSBI) der École Polytechnique Fédérale de Lausanne arbeiten Aaron P. Gerratt und sein Team an einer Sensorik, die Berührungen elektronisch erfassbar macht. Im Unterschied zu anderen Ansätzen soll sich das Tast-Sensorium flächig über die Arme und Greifer von Robotern ziehen lassen und muss daher extrem dünn sein. Dadurch ist als die elektronische Haut auch dafür geeignet, Prothesen einen Tastsinn zu verleihen. Noch wurde längst nicht die letzte Etappe dieser Forschungsreise begonnen. Dennoch konnten die Schweizer Wissenschaftler im Rahmen der Materialerforschung bereits die praktische Eignung nachweisen. Autor: Ing. Peter Kemptner / x-technik
Künstliche Sinne
„Roboter waren der Ausgangspunkt meiner Forschungen“, sagt Aaron P. Gerratt, Wissenschaftler am Laboratory for Soft Bioelectronic Interfaces (LSBI) der École Polytechnique Fédérale de Lausanne. „Sie sind auf Bildverarbeitungssysteme angewiesen, um ihre Umgebung wahrzunehmen, und das ist für die schnelle und zugleich sichere Zusammenarbeit mit Menschen nicht ausreichend.“
Das liegt unter anderem daran, dass Kameras auch heute noch gute, vor allem aber gleichbleibende und damit berechenbare Lichtverhältnisse benötigen. Damit kann jedoch außerhalb von Laboratorien oder Produktionszellen nicht gerechnet werden. Dazu kommt, dass Lichtstrahlen geradlinig verlaufen, Vision-Systeme daher nicht um die Ecke blicken können. Zudem ist das von ihnen gelieferte Bild der Umgebung in jedem Fall sehr oberflächlich.
Dem Tastsinn auf der Spur
Roboterhände können zwar mittels Lichtschranken vor Hindernissen angehalten oder durch Begrenzung der Motorströme davor bewahrt werden, gegriffene Gegenstände zu zerquetschen. Die dadurch gewonnenen Informationen entstehen jedoch sehr spät, sind eindimensional und halten keinem Vergleich mit den reichhaltigen Nervenreizen stand, die wir von unserer Haut geliefert bekommen.
„Am LSBI arbeiten wir deshalb an der Entwicklung flexibler bio-elektronischer Sensoren, mit denen sich Roboterarme und Greifersysteme überziehen lassen, um ihnen eine Art Tastsinn zu verleihen“, sagt Gerratt. Seinen PhD in Maschinenbau hat der Bostoner vor seiner jetzigen Tätigkeit an der University of Maryland mit einer Arbeit über mikromechanische Systeme (MEMS) erlangt. „Deren zweite, beinahe noch spannendere Anwendung ist in der Medizintechnik, wo es darum geht, Handprothesen und andere künstliche Gliedmaßen mit Sensorik zu überziehen und so ihren Trägern die Welt wieder fühlbar zu machen.“
Neue Materialien finden
Anläufe zum Bau einer Sensorik, mit der sich ein Tastsinn künstlich schaffen lässt, gab es zwar auch in der Vergangenheit immer wieder. Allerdings wurden solche Systeme meist diskret aus einzelnen Aufnehmern auf flexiblen Polymeren aufgebaut oder in Form leitfähiger Textilien realisiert. Das macht es sehr aufwändig, ganze Gliedmaßen mit einem feinmaschigen Netz von Rezeptoren zu überziehen. Außerdem erreicht ein flächendeckender Aufbau rasch die Dicke eines Ski- oder Arbeitshandschuhs – ein massives Hindernis für die praktische Anwendung.
Die natürliche Haut ist weich und zugleich elastisch. Gerade im Fall von Robotergreifern oder Handprothesen fallen wesentliche Informationen im Bereich der Gelenke an. Deshalb muss die „elektronische Haut” über diese gelegt werden und deren Bewegungen mitmachen, ohne ihre Funktion zu verlieren, Falten zu bilden oder zu brechen. „Dazu ist es erforderlich, neuartige Materialien zu finden, zu untersuchen und zu kombinieren“, weiß Gerratt. „Nur mit dünnen, robusten und zugleich dehnbaren Materialien lassen sich diese Sensoren mit einer mechanischen Kompatibilität zu ihren Trägersystemen ausstatten, die von heute handelsüblichen Komponenten nicht erwartet werden kann.“
Druck und Zug
Die Aufgabe wird dadurch erschwert, dass es sich bei der elektronischen Haut nicht um ein monolithisches Gebilde handelt, sondern um einen komplexen Aufbau aus mehreren Schichten. Neben der Trägerfolie enthält dieser Elektroden, Masse- und Schirmungsleiter und wird mit isolierenden Deckschichten nach außen hin abgeschlossen.
Über die Elektroden – aufgedampfte, dünne Leiterbahnen aus dehnbaren Gold-Legierungen – lassen sich mittels unterschiedlicher elektrischer Verfahren zwei physikalische Größen ermitteln. Das Zusammendrücken der Schaumstoff-Folie zwischen den Elektroden verändert die Kapazität des Kondensators, den diese mit dem Elastomer als Dielektrikum bilden. Sie kann gemessen werden, um den Druck zu ermitteln. Das erlaubt Rückschlüsse auf die Kraft, mit der ein Objekt auf die Haut einwirkt bzw. mit der die Finger ein Objekt ergreifen. Empfindlichkeit und Robustheit der Sensor-Haut müssen einen Bereich von ca. 5 bis 400 kPa abdecken, um sicher mit der natürlichen Haut mithalten zu können.
Da sich mit zunehmender Längenausdehnung der Widerstand der Leiterbahnen erhöht, wird dieser gemessen, um auf Zug oder Stauchung der Haut zu schließen. Dadurch kann an Gelenken deren aktuelle Stellung in Relation zu einer definierten Ausgangslage ermittelt werden. Bei der Längenveränderung geht es häufig nicht um kleine Werte, denn die natürliche Haut lässt sich ohne weiteres um mehr als 15 % dehnen. Da die Länge des Trägermaterials auch temperaturabhängigen Schwankungen unterliegt, lässt sich mit einem zuvor unter bekannten Bedingungen kalibrierten System über die Zugspannungsaufnehmer auch die Temperatur feststellen.
Silikonschaum bringt‘s
Auf der Suche nach dem Material, das die Funktion des Trägers und Dielektrikums am besten erfüllt, wurden unterschiedliche steife Kunststoff-Folien getestet. Während massive und geschäumte Elastomere ähnliche und in allen getesteten Fällen bei Dehnung um bis zu 30 % lineare Streckeigenschaften aufwiesen, unterschieden sie sich erheblich, was die elastische Komprimierbarkeit betrifft. Wegen ihres etwas geringeren Modulus und der besseren Verträglichkeit mit Mikrostrukturierungsverfahren ging der getestete Silikonschaum vor dem Polyurethanschaum knapp als Testsieger hervor.
Ergonomische Versuchsanordnung
Um für die Materialwahl gültige Werte zu erhalten, schufen die Wissenschaftler am LSBI Versuchsanordnungen, die sich auf der Außen- oder Innenseite eines Fingers anbringen lassen. Der Drucksensor hat sechs hintereinander angeordnete kapazitive Elektroden, um an unterschiedlichen Stellen des Fingers unabhängige Werte für den Druck zu liefern. Der Dehnungsmessstreifen deckt mit zwei getrennten resistiven Elektroden die beiden vorderen Fingergelenke ab.
Zusätzlich zu den Metallschichten für die Elektroden und die elektrische Masse mussten Schichten für die Abschirmung elektromagnetischer Störeinflüsse des Körpers integriert werden. Sie ermöglichen auch die gleichzeitige Auswertung von mehrfachen Berührungen, wichtig für das Ergreifen von Gegenständen mit komplexen Konturen und das Erkennen von Objektbewegungen. Eine an der Fingerwurzel angebrachte Leiterplatte trägt die Elektronik, die für das Auslesen und Weitergeben der gemessenen Werte sorgt. Eingearbeitet in dünne Stoffhandschuhe, ermöglichen die Sensoren durch entkoppelte Auswertung der gleichzeitig auftretenden Zug- und Druckspannungen eine präzise Griff-Analyse.
Vielversprechende Tests
Die Komponenten der sensorischen Haut eignen sich für die Serienfertigung und zeigen im Experiment mit mehr als 250.000 Kompressions- und über einer Million Streckzyklen eine bemerkenswert hohe Stabilität und Wiederholgenauigkeit. Neben dem exakten Feststellen des Beugens und Streckens der Finger sowie des Anpressdrucks von ergriffenen oder sonstwie berührten Objekten ergibt sich die Möglichkeit des funktionalen Abtastens. Durch Kombination der Werte aus den Zug- und Drucksensoren lässt sich die Steifigkeit von Objekten unterscheiden und der Griff entsprechend anpassen.
Aaron Gerratt und sein Team evaluierten die Eignung des smarten Sensor-Handschuhs für komplexere Greifaufgaben unter anderem durch visuelle Rückmeldung an seinen Träger. Dieser musste einen Bildschirm betrachten, während er einen Gegenstand ergriff. Dessen Farbe veränderte sich in Abstufungen von dunkelblau für ‚keine Berührung‘ bis rot für ‚hoher Druck‘. „Der Anwender musste durch festeres oder leichteres Greifen einen vordefinierten Farbwert (cyan) auf dem Bildschirm erzielen“, beschreibt Gerratt den Versuch. „So wurde der Beweis erbracht, dass die elektronische Haut eine ausreichende Empfindlichkeit und Geschwindigkeit für Roboter- und Prothetik-Anwendungen aufweist.“
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